Kunstpreis der Mecklenburgischen Versicherungsgruppe
19.06. – 21.08.2022
Kunstsammlung Neubrandenburg
Nominiert:
Monika Bertermann – Juliane Laitzsch – Katharina Neuweg – Udo Rathke – Anneliese Schöfbeck
Der Preis: wurde an Katharina Neuweg vergeben.
Kunstsammlung Neubrandenburg
Große Wollweberstraße 24
17033 Neubrandenburg
Ausstellungsansicht / Exhibition View · Kunstsammlung Neubrandenburg · 2022 · Foto: Bernd Borchardt
Ausstellungsansicht / Exhibition View · Kunstsammlung Neubrandenburg · 2022 · Foto: Bernd Borchardt
Zeitgeflechte
Das künstlerische Werk von Juliane Laitzsch ist von ganz eigener Qualität.
Zumindest in Mecklenburg-Vorpommern gibt es niemanden, der im Bereich des künstlerischen Auskundschaftens und zeichnerischen Deutens in dieser Art und Weise tätig ist.
Seit 2012 dreht sich bei Juliane Laitzsch alles um die Arbeit mit Textilarchiven, um spätantike Fundstücke, Ornamente, Fragen der Restaurierung und um zeichnerische Experimente der Annäherung an diesen Schatz kultureller Fragmente, dieser „Unendlichkeit in kleinen Fetzen“, wie sie eines ihrer Forschungsprojekte (2012-14) betitelt hat.
Im Zentrum ihrer künstlerischen Arbeit steht die existentielle Frage nach dem Entstehen und Vergehen von Artefakten, die unser zivilisatorisches Sein begleiten.
In ihrem Ausstellungsbeitrag präsentiert die Künstlerin zwei Serien von Zeichnungen, die aus ihrem Arbeitskomplex „Spätantike Textilien – Experimente der Annäherung“ stammen. Es handelt sich um das bereits mit Erfolg 2021 im Berliner Bode-Museum gezeigte Projekt „Neu (v)erdichtet – eine Tunika des Museums für Byzantinische Kunst, Berlin“ sowie um die hier in der Kunstsammlung Neubrandenburg erstmalig vorgestellten „Negativbilder“ – bezogen auf ein Manteltuch aus dem koptischen Museum in Kairo.
Will man der Strategie der Künstlerin auf die Spur kommen, führe man sich am besten jene Tätigkeit vor Augen, die Mönche und Nonnen bis zum Beginn des Buchdrucks im 15. Jahrhundert in klösterlichen Schreibwerkstätten verrichteten – sie schrieben Handschriften und Bücher ab. Einer geistlichen Übung gleich durchdrangen und verinnerlichten sie dabei die Texte. So wurden geistliche, weltliche und wissenschaftliche Texte weitertradiert.
Auch die Werkkomplexe von Juliane Laitzsch könnte man als Ergebnisse eine Scriptoriums ansehen, das nicht ablösbar ist vom Grad ihrer Anschauung der Vorlage und zugleich ihrer Vertiefung in den Zeichnungsakt, ihrer Handfertigkeit, ihrer Phantasietätigkeit, ihrer Gedächtniskraft – als Äußerungen eines bewussten Tuns, zuweilen auch der unbewussten Übernahme von Fehlern und deren nachträglicher Korrektur.
Bei Juliane Laitzsch verknüpfen sich Bild und Text, wissenschaftliche Techniken und zeichnerische Interpretation, Dokumentation und der freie Umgang mit dem Vorgefundenen in Variationen. Gebundenes und Freies verdichten sich auf einer Intensitätsstufe der sinnlichen Wahrnehmung. Ihr Nachgraben im Historischen ist ihr Anlass zum Zeichnen, zum Schreiben, zum Nachdenken und Reflektieren. Aktuell überführt Juliane Laitzsch diese Arbeit zudem in eine künstlerische-wissenschaftliche Dissertation.
Man muss bei ihren zeichnerischen Konvoluten nicht wissen, was man sieht, sie sind ästhetisch vielgestaltig genug und vermögen zu faszinieren, aber ein Mehr an Informationen über das, was der Stoff der Reflexion ist, was das Stoffliche; was fixiert wird und sich im selben Moment der Fixierung entzieht; was sich im Prozess des Zeichnens etabliert und wie es sich zeigt – und die Art und Weise, wie die Künstlerin und wie das Publikum all das anschauen – das sind Problematiken, die den Vorgang der Rezeption gewinnbringend erweitern.
Die aus der Vergangenheit überkommenen Flickwerke und Bruchstücke in ihrer eigenen Entleertheit als Vorzeichen verheerender Umbrüche zu verstehen, ist ein moderner Gestaltvorrat, der das gesamte Werk der Künstlerin hochaktuell erscheinen lässt. Um mit Hand und Kopf zu durchdringen, was wirklich ist, denn nur so wird erlebt, werden von Juliane Laitzsch skripturale Erfahrungen geschaffen, die ästhetisch und politisch-gesellschaftlich zu verarbeiten sich nicht nur auf Museumsebene lohnt.
Text von Christoph Tannert zur Arbeit von Juliane Laitzsch